Es dauerte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, bis sich Jugend als Phänomen in allen sozialen Bereichen, insbesondere sind hier (Jugend)Mode, (Jugend)Medien und (Jugend)Kultur hervorzuheben, durchgesetzt hat. Der gesellschaftliche Wandel in unserer modernen Zeit hat auch die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen entscheidend verändert. Die ehedem festgefügten Bindungen an überlieferte Werte und Verhaltensmuster sind lockerer, die individuellen Perspektiven bezüglich Bildung, Beruf und Lebensgestaltung vielfältiger geworden. Kindern und Jugendlichen sind damit aber nicht nur neue Chancen und Möglichkeiten eröffnet. Gleichzeitig sind sie auch besonderen Anforderungen und Belastungen ausgesetzt.
Dementsprechend vielfältig ist inzwischen die Palette der Jugendforschung, die sich mit den Folgen der Modernisierung der Gesellschaft und dem damit verbundenen Wandel des sozialen Ortes von Kindheit und Jugend auseinandersetzt.
INDIVIDUALISIERUNG
Individualisierung bedeutet zunehmende Differenzierung von der Umgebung, die Bildung einer eigenen Rolle, die nicht nur fremdbestimmt sondern selbst definiert ist. Es spielt immer mehr eine Rolle, eigene Standpunkte formulieren zu können. Meinungspluralität ist vorherrschend. Relative wirtschaftliche Sicherheit ermöglicht Prozesse der Selbstreflexion und Selbstfindung. Die Chance und der Zwang, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen, um ein höchstes Maß an Selbstbestimmung zu erreichen, prägen gleichermaßen. Beobachtbar ist eine zunehmende Befreiung aus fest gefügten Strukturen (Klasse, Religion, Schicht oder Familie). Verbesserte Bildungschancen und (soziale) Mobilität sorgen für Vielfalt, führen jedoch nicht zur Aufhebung sozialer Ungleichheit – im Gegenteil. Die relative wirtschaftliche Sicherheit bietet zwar eine generelle Verbesserung der Lebensbedingungen aller Bevölkerungsschichten, ist aber nicht für alle gleich effizient (Stichwort Fahrstuhl-Effekt: es erreicht zwar jeder den Fahrstuhl, es kommt jedoch darauf an, wohin dann die Reise geht).
Bestimmend für die moderne Gesellschaft und mithin erst recht für die Jugendlichen von heute ist eine radikale Zunahme von Optionen und Wahlmöglichkeiten – ohne gleichzeitig aber wirklich Anhaltspunkte dafür zu haben, was denn nun richtig oder falsch wäre. In der Diktion von Ulrich Beck ist somit von einem Risiko im doppelten Sinn des Wortes zu sprechen: als Chance: Lebenschancen durch gewachsenen Wohlstand, Arbeitszeitverkürzung, das spiegelt sich vor allem wieder bei: Berufs- und Partnerwahl, Beziehungsformen, Weltanschauung. aber eben auch als Gefahr, zu scheitern, von der ständigen Notwendigkeit, sich zu entscheiden und für sich auszuwählen, überfordert zu werden etc. Insgesamt – so ist hier festzustellen – werden Lebenslauf und Lebensumstände zunehmend von jedeR Einzelnen für sich entschieden und weniger im Kollektiv (vor)gestaltet.
VIELFALT AN CHANCEN FÜHRT ZU QUALIFIZIERUNGSDRUCK
Bei aller Unterschiedlichkeit der Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen, je nach familiärem Hintergrund, Status, Einkommen, kultureller Herkunft, Staatsbürgerschaft, Sprachkenntnis etc., ist festzuhalten, dass sich mit der Pluralisierung der Gesellschaft eine allgemeine Zunahme des Qualifizierungsdrucks ergeben hat. Nicht nur hat sich die durchschnittliche Dauer der Schul- und Ausbildungszeit wesentlich verlängert. Kindern und Jugendlichen ist, wie wir entsprechenden Untersuchungen entnehmen können, die Bedeutung von schulischer Bildung und beruflicher Qualifizierung für ihren weiteren Lebensweg mehr als bewusst. Nicht nur ihre Eltern erwarten von ihnen schulischen und beruflichen Erfolg. Dieser Erfolgsdruck zeigt sich auch in ihrem Verhalten sowie in je spezifischen Formen des individuellen Leidens oder des Widerstandes gegen diese Zumutung.
MOBILISIERUNG UND SOZIALRÄUMLICHE NEUORIENTIERUNG
Mehrere Faktoren der Gesellschaftsentwicklung erscheinen dafür verantwortlich, dass sich auch die Mobilität der Jugendlichen entscheidend verändert hat. Hervorzuheben sind hier insbesondere die Veränderung der Familienstruktur und die soziale Ausdünnung der Nahräume. Die neuen Familien und die Jugendlichen schaffen sich nahraumübergreifende soziale Netzwerke – unter mehr/minder ausgeprägter Nutzung der vorhandenen Infrastrukturangebote. Allem voran in den Lebensbereichen Bildung, Freizeit und Konsum gewinnen nahraumübergreifende Orientierungen ein besonderes Gewicht. Gleichzeitig werden damit die Strukturen im Nahraum sozial entleert. Nicht nur in baulicher und stadtentwicklungsbezogener Hinsicht werden die ‚Räume‘ für ein soziales (Er)Leben vor Ort enger.
Die moderne Familiensoziologie sowie die Stadtforschung hat dafür das Konzept der Verinselung der Stadträume geprägt, wonach die sozialen Kontakte der Familien sich auf den weiteren räumlichen Kontext beziehen. Ihre Bekanntschafts- und Verwandtschaftsnetze konzentrieren sich nicht auf die unmittelbare Nachbarschaft bzw. den jeweiligen Siedlungsraum, sondern streuen über den ganzen Stadt- bzw. regionalen Raum. Der soziale Horizont der Familien und ihrer Mitglieder fördert soziale und räumliche Mobilität, ihre gesellschaftliche Teilhabe setzt diese gewissermaßen voraus.
Diese grundsätzliche Mobilitätsorientierung erleichtert es Jugendlichen, sich ihre ganz individuellen Bildungswünsche zu erfüllen und ganz gezielt Ausbildungsangebote und –möglichkeiten zu nützen, unabhängig davon, ob sie diese in ihrem engeren Lebensraum vorfinden oder zu diesem Zweck auspendeln müssen. Bildungspendeln wird ebenso zur Norm und von Seiten der Schulentwicklung durch die schrittweise Weiterentwicklung der schulischen Angebote Schwerpunktschulen und Bildungs-Clustern auch gezielt gefördert. Der Alltag von Kindern und Jugendlichen wird damit gewissermaßen in ein breiteres räumliches Setting gestellt.
Diese Entwicklung wird u.a. auch durch die zunehmende Nutzung neuer Medien, allem voran von Handy und Internet, gefördert. Kommunikation und mehr / minder regelmäßiger und intensiver Austausch zwischen Freunden und Bekannten einerseits sowie zwischen Menschen, die sich noch nie von Angesicht zu Angesicht kennen gelernt haben, andererseits werden vom sozialen, räumlichen sowie zeitlichem Konnex unabhängig. Die Jugendmedien (in Funk, Fernsehen und Printmedien) tun ihr Übriges dazu, diese überräumliche Orientierung noch weiter zu treiben. Jugend – bei all ihrer Vielfalt und Heterogenität – wird gewissermaßen zu einem globalen Phänomen, wonach es mehr / minder zweitrangig ist, wo die einzelnen Kinder und Jugendlichen leben.
SOZIALER ORT VON KINDHEIT UND JUGEND
Damit haben sich für Kinder und Jugendliche die Chancen und Risiken, einen ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten adäquaten Platz in dieser Gesellschaft zu erarbeiten, entscheidend verändert. Stichworte für diese Veränderung sind:
* Verschulung und Vereinheitlichung der Lebenslage Jugend
* Individualisierung von Stilen und Lebensformen
* Der Übergang zwischen Kindheit und Jugend vollzieht sich immer früher
* Kommerzialisierung des jugendlichen Freizeitverhaltens
* großräumige Orientierung bei der Freizeitgestaltung
* die Ablöse aus der Jugendzeit, das Erwachsen-Werden, verschiebt sich
nach hinten.
JUGEND – LEBENSLAGE DES ÜBERGANGS
Die moderne Jugendforschung beschreibt die Ausgangslage der Adoleszenz mit folgenden Stichworten:
• Ausfransung der Lebenslage Jugend
• Entstandardisierung des Übergangs
• Konstituierung einer Lebensphase im Übergang:
junge Erwachsene ‚emerging adulthood‘
• Exploration der Identität
• Instabilität
• Gefühl des Dazwischen-Seins
• Selbstbezogen-Sein
• Optionen und Wahlfreiheiten
• Entstandardisierung zeigt sich auch als Ungleichheit, das betrifft:
• Scheitern von Bildungsverläufen und Berufsantritten
• JOJO-Effekte – Hin und Her zwischen Jugend und Erwachsensein
• Phasen des Ausprobierens, Abbruchs, Neustarts (von vorn?)
Auf der strukturellen Ebene dominieren Aspekte der Entstandardisierung und einer Entwicklung hin zu einer fluiden Gesellschaft (Mobilität, Instabilität, Wandel und Qual der Wahl). Dem stehen auf der individuellen Ebene unterschiedlichste Strategien gegenüber, mit denen junge Menschen auf die Herausforderung der Moderne reagieren. Allem voran zeigen sich
• forciertes Bemühen
• angestrengtes sich Anstrengen
• Stress bis hin zu krankhaftem / krankmachendem Druckempfinden
• Der Widerspruch zwischen Wunsch und Machbarkeit wird für viele zu
einer (über)großen Belastung
• vermehrt üben sich Jugendliche in einer Re-Ritualisierung von
Übergängen (nach dem Motto, wonach Rituale Sicherheit stiften)
• und / oder pendeln zwischen Abhängigkeit und Autonomie.
Auf der formalen Ebene stehen Jugendliche vor dem Einstieg in eine Bildungs- bzw. Berufsbildungslaufbahn, sie wohnen vielfach noch bei ihren Eltern und stehen so in materieller Abhängigkeit. Vor diesem Hintergrund sind sie mit Aufgaben der Identitätsbildung sowie der Geschlechtsrollenentwicklung konfrontiert. Dem eigenen Körper kommt mithin eine besondere Bedeutung zu. Wir können beobachten, dass der Körper – via Tätowieren, Piercing, Bodystyling, (Jugend)Mode etc. – zu einer zentralen Projektionsfläche für eigene Lebensentwürfe wird. Das reicht bis hin zu mehr/minder schwerwiegenden Einschnitten und Belastungen, die z.B. in Form von Bulimie, Ess- oder Magersucht, Ritzen und anderen Selbstverletzungen, Konsum von legalen sowie illegalen Drogen etc. zum Ausdruck kommen.
Generell kann beobachtet werden, dass sich die Ablösung aus dem Elternhaus und die Gründung eines eigenen Haushalts / einer eigenen Familie – im Vergleich zu früheren Jahrhunderten – zunehmend nach hinten verschieben und erst in späteren Lebensphasen zum Thema gemacht wird.
Es ist schlicht eine gesellschaftliche Tatsache, dass Jugend eine Phase des Übergangs darstellt, die durch gesellschaftliche Entwicklungen (nennen wir mal: Modernisierung, Digitalisierung, Konsumorientierung, Mediatisierung etc.) gestaltet wird. Manche dieser Entwicklungen erweisen sich als eher jugendfreundlich, weil damit Optionen und Wahlmöglichkeiten eröffnet werden, die vordem undenkbar gewesen wären. Andere jedoch belasten die Chancen der Jugendlichen, führen zu (neuen) Risiken und Gefahren, stellen mithin eine (z.B. nur schwer zu bewältigende) Herausforderung für junge Menschen dar.
Besonderes Augenmerk ist deshalb darauf zu leben, zu welchen Bewältigungsstrategien Jugendliche greifen und wie sie damit zurechtkommen.
• Gleichermaßen kann beobachtet werden, dass Jugendliche ganz einfach durchstarten und das anstehende Programm (Bildung, Ausbildung, Berufswahl etc.) Punkt für Punkt abspulen
• Andere Jugendliche dagegen erweisen sich als zögerlich, sie schieben Entscheidungen auf, verharren bspw. im familiären Haushalt und scheinen eher darauf zu warten, dass andere für sie die fälligen / anstehenden Entscheidungen treffen
• Jedenfalls gibt es unter den Jugendlichen viele, die einfach mitmachen und das erledigen, was gerade ansteht
• Dem stehen Jugendliche gegenüber, die sich tendenziell gegen diese Anforderungen zur Wehr setzen, sich gesellschaftlichen Normen tendenziell widersetzen bzw. überhaupt aus dem Mainstream aussteigen
• Jedenfalls erweisen sich die gesellschaftlichen Anforderungen z.B. als widersprüchlich und stellen die Jugendlichen vor die Herausforderung, widersprüchliche Ausgangslagen und Rahmenbedingungen zu vereinbaren, gewissermaßen ihre Wahl zu treffen, Kompromisse einzugehen und/oder sich „durchzuwursteln“
• Als eher neue Entwicklung ist in diesem Zusammenhang zu beobachten, dass sich Jugendliche / junge Erwachsene durch eine Selbstinszenierung zwischen Anpassung und Widerstand durchmogeln, z.B. Unternehmensgründung im jugendkulturellen Kontext; z.B. Nutzung von Co-Working-Spaces; z.B. prekäre Selbstständigkeit im Rahmen von Start-Ups etc.
SOZIALER ORT: PEER GROUP
Die Lebenslage Jugend ist wesentlich von Entwicklungen im globalen sowie im lokalen Kontext geprägt Sie spielt sich zwischen MTV und Grünanger ab; vom Internet ins Cineplexx und dazwischen wird eine Runde gebolzt. Diese Ambiguität bildet ein qualitativ neues Raster für Selbstverwirklichung und soziale Teilhabe, für Integration und Segregation.
„Das Surfen durch den Möglichkeitsraum der ästhetischen
Selbstinszenierung ist Mainstream geworden.“
Vermehrt orientieren sich Kinder und Jugendliche an der Welt der Gleichaltrigen. Die Peer Group, die keineswegs nur auf die sozialen Nahräume beschränkt sondern eher nach inhaltlichen, jugendkulturellen bzw. –modischen Aspekten konstituiert ist, bietet ihnen Rückhalt sowie einen originären sozialen Erfahrungsraum. Hier finden sie die Möglichkeit, ihr ganz persönliches Potenzial an sozialer Kompetenz zu entfalten, neue Verhaltensmuster zu erproben und für sich Normen und Werte spielerisch zu erwerben.
Gleichzeitig sind sie mit hohen Erwartungen konfrontiert, die diese Gleichaltrigengruppe an sie stellt. Konsumstandards wie Mode, Musikträger, Video und High-Tech-Geräte spielen für die Integration und insbesondere für ihren Status in ihrer Clique oder Peer Group eine zunehmende Rolle. Wer diesen Ansprüchen nicht genügt, läuft Gefahr, ausgegrenzt zu werden.
Auch unter diesem Gesichtspunkt lässt sich die hohe Affinität zu Szene- und Jugendmoden bei den Jugendlichen erklären, die in manchen anderen theoretischen Ansätzen in der Interpretation empirischer (Umfrage)Ergebnisse etwa lediglich auf deren hohe Attraktivität zurückgeführt wird. Unterm Strich wirken diese Erklärungsansätze dann platt und sehr einfach gestrickt. Anstelle einer Begründung für das vorgefundene moderne Dasein der Jugendlichen findet sich dann ein: „So einfach ist das!“
Aber die Risiken, nicht dazu zugehören, den Anschluss – aus welchen Gründen auch immer – zu verpassen, sind gerade in Zeiten moderner Gesellschaften und ib. flexibilisierter Arbeitsmärkte nur zu deutlich und sichtbar.
JUVENALISIERUNG VON ARMUT
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Bild der Armut und insbesondere deren Streuung über verschiedene Bevölkerungsgruppen maßgeblich verändert. Neben Frauen sind es nun allem voran Minderjährige (Kinder und Jugendliche also), die von Armutsverhältnissen betroffen sind. Den oben angerissenen neuen Chancen stehen somit neue/ alte Risken gegenüber, die sich insbesondere an folgenden Problembereichen verdeutlichen lassen:
• Aufwachsen in Armut und Armutsgefährdung
• Probleme bei der Lehrstellensuche
• Jugendarbeitslosigkeit
• Verhaltensauffälligkeiten (z.B. Drogen- oder Alkoholabhängigkeit / Straffälligkeit / Wohnungsnot)
Als Kehrseite der Attraktionen und Reize unserer modernen Gesellschaft beobachten wir zunehmende Vereinsamung, Orientierungslosigkeit, Sinnkrisen und psychisches Leid. Weiters sind eben nicht mehr nur die klassischen Randgruppen, die in ghettoähnlichen Siedlungsstrukturen leben, von einem hohen Verarmungsrisiko betroffen.
Unter den Vorzeichen der Pluralisierung von Lebenslagen und –wegen (in Kombination mit so unterschiedlichen Anlassfällen wie Scheidung, Krankheit, Arbeitslosigkeit) geraten nun auch Familien aus mehr oder weniger abgesicherten Verhältnissen in existenzielle Krisen. Neben den traditionellen Armutsformen, die relativ eng umrissene Bevölkerungsgruppen und –schichten in sogenannten Armutsvierteln betrafen, hat sich in der modernen Gesellschaft eine neue Armut entwickelt, die kaum einmal öffentlich sichtbar wird. Diese verdeckte Armut ist vorerst einmal unmittelbare Folge von besonderen ökonomischen Belastungen der betroffenen Familien. Vielfach kann diese Armutsphase auch über kurz oder lang wieder überwunden werden. Günstiger Weise bleibt es dann bei dieser ‚Passagen-Armut‘. Anders ist es aber, wenn sich die verdeckte Armut im Rahmen zeitlich befristeter finanzieller Belastungen verfestigt, chronifiziert und auf weitere Lebensbereiche ausdehnt. Damit kann eine Dynamik in Gang gesetzt werden, die über die Einschränkung von sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe zu einer umfassenderen Armutsbelastung werden kann. Nicht nur verfestigen sich dann Armutsverhältnisse. Über die Einschränkung der Aufwendungen für Bildung, Gesundheit, Kultur etc. bedeutet dies dann endgültig auch eine Verarmung der Lebenswelt der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Neue Armut wird in dieser Form an die Folgegeneration vererbt.
JUNGE FRAUEN ZWISCHEN TRADITION UND MODERNE
Die ‚weibliche Normalbiografie‘ mit Ehe, Familie, kindererziehungsbedingter Berufspause etc. und dem Schwerpunkt auf innerfamiliäre Reproduktionsleistungen stellt mittlerweile für die Mädchen keine Garantie für Kontinuität oder Harmonie in der Lebensführung dar, sondern wird eher zum Schauplatz für immer wiederkehrende Verhandlungen. Die Identitätsentwicklung von Mädchen und jungen Frauen verläuft zwischen Tradition und Moderne, im Nebeneinander von emanzipatorischen und traditionellen Orientierungen, alles andere als bruchlos.
„Karrierefrau! Bis jetzt war mir die Karriere wichtig, doch nun ist die Liebe dran. Ich (25/blond/Top-Figur) wünsche mir einen gepflegten Gentleman für den Rest des Lebens!“
Aktuell ist festzustellen, dass junge Frauen vermehrt in höhere schulische Bildung eintreten und mittlerweile anteilsmäßig die Burschen übertreffen. Das heißt jedoch (noch) nicht, dass sich damit das Spektrum der beruflichen Auswahl entscheidend verändert hätte. Nach wie vor wählen Frauen aus einem sehr engen Berufsspektrum ihren Wunschberuf aus. Technische Berufe oder Qualifikationen bleiben weiterhin weitgehend frauenfrei. Initiativen zur Veränderung dieser Bildungswege, Mädchen für technische Berufe zu interessieren etc., haben bislang noch keine nennenswerten Ergebnisse gebracht.
Im Gegenteil ist festzustellen, dass die Schere zwischen Männer- und Fraueneinkommen nach wie auseinandergeht. Es sind allem voran Frauen, die teilzeitarbeiten, die familiäre Reproduktionsaufgaben, die eben nicht als Erwerbsarbeit organisiert sind, übernehmen, die den ‚Care-Sektor‘ (Dienstleistung, Kinderbetreuung und Erziehung, Pflege etc.) abdecken. Traditionelle Geschlechtsrollen erweisen sich für viele Mädchen / junge Frauen als nachhaltige Fallen, die alternative Lebensentwürfe verstellen (Mutter oder Hure).
JUNGE BURSCHEN UND MÄNNER
Bereits in 60er Jahren des 20. Jahrhunderts hat Alexander Mitscherlich auf die besonderen Rahmenbedingungen männlicher Adoleszenz in der modernen Gesellschaft hingewiesen und in psychologischer Hinsicht die Folgen des Mangels an männlichen Vorbildern im Rahmen der Sozialisation herausgearbeitet. Mittlerweile, so könnte gesagt werden, ist dieses Kapitel weitgehend abgeschlossen. Es handelt sich nicht mehr um einen Trend gesellschaftlicher Entwicklung, dies ist vielmehr zum Normalbestandteil der männlichen Biografie geworden. Die männlichen Vorbilder haben sich mittlerweile weitestgehend abgeschafft. Sofern den Meinungsumfragen geglaubt werden darf, hat die Bedeutung von Vorbildern gerade bei den männlichen Jugendlichen einerseits wesentlich abgenommen und sich zweitens vom näheren Umfeld gelöst. Auch für die Suche nach männlichen Vorbildern gilt mittlerweile das Prinzip der Mobilität – Vorbilder werden im weiteren Umfeld gesucht und gefunden oder überhaupt dem virtuellen und medial vermittelten Raum entnommen.
Umso bizarrer erscheint es vor diesem Hintergrund, wenn einzelne Jugendszenen (z.B. die Skins) dezidiert auf antiquierte Männlichkeitsbilder im Sinne einer hegemonialen oder patriarchalen Männlichkeit zurückgreifen.
HEGEMONIALE MÄNNLICHKEIT
Joachim Kersten setzt sich in mehreren Arbeiten mit gewaltbereiten Jugendlichen (jungen Straftätern) und Jugendszenen (Skin-Heads) insbesondere mit dem ideellen Hintergrund der männlichen Gewaltbereitschaft auseinander. Dabei geht er von den gemeinhin üblichen und mehrheitsfähigen Kulturmustern von Männlichkeit aus und versucht, Gewaltförmigkeit und –bereitschaft in diesen Szenen quasi als Negativabzug von hegemonialer Männlichkeit zu verstehen. Als Bezugsfeld von männlicher Gewalt gelten damit die tragenden Prämissen hegemonialer Männlichkeit, die er wie folgt zusammenfasst:
• „Der richtige Mann wird für seine Arbeit gut bezahlt, macht etwas Sinnvolles und lässt sich dabei von niemandem reinreden, sondern weist anderen weniger wichtige Arbeiten zu. Unbezahlte oder schlecht bezahlte Arbeit, abhängige Arbeit und Arbeiten mit Konnotationen wie weibliche Fürsorge (… care): im Haus, Reinigungstätigkeiten, Kinderversorgung, Versorgung und Pflege von Kranken und Alten gelten als unmännlich.
• Ein echter Mann tritt für sich und andere ein. Wird er herausgefordert, so muss er sich stellen etc. Er muss Schwächere wie Frauen und Kinder verteidigen, und muss in der Gemeinschaft anderer absolut verlässlich sein. Er kennt Techniken des Kämpfens und beherrscht Waffen.
• Ein Mann ist anders als eine Frau, aber er braucht eine Frau, um ein richtiger Mann zu sein. Für Sexualität sind der erigierte Penis und die Penetration des weiblichen Geschlechtsorgans wichtig. Sexualität zwischen Menschen gleichen Geschlechts ist nicht ‚normal‘.
• Ein Mann passt auf seine Frau und seine Töchter auf und beschützt sie vor den anderen Männern.“ (Kersten 1995, S. 24)
Am Rande erscheint hier der Hinweis wichtig, dass sich letztlich auch die gesellschaftliche Reaktion auf Gewalttaten und Täter(gruppen) auf die o.a. Prämissen hegemonialer Männlichkeit beziehen und es dabei eher ‚um die Unterordnung bestimmter junger, gefährlicher Männlichkeiten (unter die staatlich legitimierte hegemoniale Macht von Männern) als um den Schutz der Opfer geht‘.
Für hegemoniale Männlichkeit ist in unserer Gesellschaft – zumindest für eher randständige männliche Jugendliche sowie für die jungen Männer mit nicht-österreichischem Kulturhintergrund – nur wenig Platz. Umso größer, so ließe sich dieser Gedankengang weiterspinnen, ist unter diesen Voraussetzungen der Druck auf die einzelnen jungen Männer, sich ihrer prekären Männlichkeit durch Abwertung und Unterordnung von potentiell oder tatsächlich schwächeren KollegInnen zu versichern – und was eignet sich dafür besser als (sexualisierte) Gewalt.
JUGENDKULTUREN
„Die“ Jugendkultur gibt es nicht, sondern eine Vielzahl an verschieden ausgeprägten Jugendkulturen bzw. Jugendszenen. Eine Definition zu finden, ist schwierig, es gibt viele Debatten darüber (Klassifizierung nach Abgrenzungsfunktion, Zuordnung bzw. Abgrenzung durch Lebensstil, durch Symbolik in erster Linie). Im Gegensatz zur 68er-Bewegung, wo Diskurs, Demonstrationen, Streitgespräche im Mittelpunkt standen, geht es heute um die Ich-Zentrierung, „leben – und – leben – lassen“, die Ablehnung von Verbindlichkeiten, Kommerz („mainstream der Minderheiten“, d.h. Massenprodukte mit dem Anschein des Einzigartigen), Gleichzeitigkeit von Lifestyle-Gruppen.
Wichtig ist auch der gesellschaftliche Trend, wonach „Jung – sein“ für alle in der Gesellschaft ein immer wichtigerer Wert wird – unabhängig von ihrem realen Lebensalter. Dadurch drohen auch äußerliche Aspekte und modische Accessoires von Jugendkultur/en stark unter Druck zu geraten (vgl. die Strategie von Marktunternehmen, die gezielt versuchen, mit ihren Produkten alle unter 50-jährigen anzusprechen. Dadurch weisen Szenekulturen ein enorm breites Altersspektrum auf.
Jugendkultur erscheint ganz offensichtlich als Spielwiese, bei dem längst schon auch die Dimensionen Körperbild, Geschlecht und Geschlechtsrolle, Identität und Lebensentwurf etc. sowohl als Konnotationen des Spielfeldes, als Regelparcour und / oder als Spielfiguren aufgenommen sind.
In den jüngeren Forschungsarbeiten über Jugend (vergleiche etwa die Jugendberichte der österreichischen Bundesregierung sowie die Arbeiten des österreichischen Jugendinstitutes) finden sich Unmengen von Hinweisen auf die ‚schillernde Vielfalt’ der Jugendkulturen. Wesentlich fokussieren diese Arbeiten auf die (sub)kulturellen Kennzeichen wie Mode, Musik und aktuelle Trends. Danach gliedert sich Jugend in eine Reihe von unterschiedlichen Jugendszenen, die sich eben auf diesen Parametern unterscheiden lässt. Das Regelsystem dieser Szenen ist allerdings relativ lose. Ja es wird sogar konstatiert, dass die Jugendlichen ihre Zugehörigkeit zu denselben wohl selbst nicht so ganz ernst zu nehmen scheinen. Vielfach wird beobachtet, dass die Jugendlichen sich lediglich an den Randbereichen dieser Kulturen andocken, zwar die einzelnen Moden und Vorlieben übernehmen, aber je nach Lust und Laune zwischen einzelnen Szenen surfen. Der einzelne Hype; das besondere Event einzelner Jugendszenen wird quasi mitgenommen – unter der einzigen Einschränkung, dass diese Szenen halbwegs zueinander kompatibel sind.
Betont wird also in diesen Arbeiten ein ausgesprochen spielerisches Moment des Umgangs mit Zuschreibungen und Eindeutigkeiten, wonach das Selbst und sogar die persönliche Identität zu einem Patch-Work aus Flicken unterschiedlicher Provenienz geraten. Wie gesagt: der spielerische Umgang ist die Norm. Dies gilt, so ist es etwa in den Trendpaketen des Österreichischen Jugendinstitutes nachzulesen, auch für den Umgang mit Leistung, wie etwa im Bereich der Trendsportarten: Auf den Skateboards, den Blades und Bikes werden wahre Spitzenleistungen erbracht, tatsächlich aber so, dass die Anstrengung und das persönliche Risiko, das die jungen Menschen dabei eingehen, nach Möglichkeit eben nicht sichtbar wird. Ziel dieser verdeckten Hochleistung ist danach der sogenannte ‚Flow’:
Die eigentliche Lust an diesen Sportarten ergibt sich danach, wenn sich zur Hochleistung der Eindruck von Leichtigkeit gesellt. Die Jugend – so der durchgängige Tenor der Szenenforschung – ist zuerst einmal cool. Unter diesen Vorzeichen ist es dann auch wenig verwunderlich, dass damit auch der sichtbare Anreiz zum Wettkampf, zum aneinander Messen also, wegfällt. Die Insport-Arten sind demgemäß auch nicht darauf ausgerichtet, irgendwann einmal olympische Disziplin zu werden. Wettkämpfe mit striktem Regelwerk gelten bei vielen AkteurInnen sogar als Verrat an der Sache!
Spitzenleistungen werden zwar im Rahmen der diversen Contests und Events bewundert; im Vordergrund aber steht die gemeinsame Begeisterung, wobei eben die jungen Männer und – wie bei vielen Sportarten sichtbar – weniger junge Frauen ihren Spaß mit der gemeinsamen Aktivität haben.
JUGENDBEGRIFF TÄUSCHT HOMOGENITÄT VOR – OHNE ENTSPRECHUNG IN DER REALITÄT
Der Begriff Jugend steht in der in der veröffentlichten Meinung für das gesellschaftliche Wunschbild einer unbeschwerten und freien Zeit, ungeachtet der Tatsache, dass dieses Bild selbst in Zeiten gesellschaftlichen Wohlstands bei weitem nicht für alle Jugendlichen zutrifft. Wir wissen, dass gerade Kinder und Jugendliche überproportional von Armutsgefährdung bzw. akuter Armut betroffen sind. Unter diesen Rahmenbedingungen sind natürlich auch die Chancen auf eine ‚unbeschwerte’ Jugendzeit äußerst eingeschränkt, das Gegenteil dürfte der Fall sein – frühzeitig erwachsen, ernsthaft und kompetent – wie immer normkonform sich diese Kompetenz geriert, das Leben muss gemeistert werden.
Tatsache ist sicherlich die zunehmende Ausdehnung der Zeit für schulische und berufliche Bildung. Für viele Jugendliche ergibt sich somit ein erkleckliches Maß an freier Zeit und vielfach auch an verfügbaren finanziellen Mittel, die für Kultur, Mode und Unterhaltung eingesetzt werden können. Jugendliche sind mittlerweile zu einer relevanten Zielgruppe für zum Teil sehr aggressive Werbung geworden. Die Marken und Labels der Jugendmoden sind vielfältig, und – geht man / frau nach dem Augenschein – das Maß aller Dinge.
So unterrichtet uns denn auch die Jugendforschung, welches Label zu welcher Szene gehört, welche Farbe der Schuhbänder über die Zugehörigkeit bei linken oder rechten Jugendszenen aufklären. Als Trend ist diese Labelorientierung zumindest in den Werbestrategien immer noch bestimmend, die Jugendlichen selbst sind nach ersten Indizien schon wieder einen Schritt weiter; angezogen wird, was gefällt. das Label wird Nebensache; mixen und mischen, was Spaß macht, wird solcherart als neue Norm erkennbar.
Festzustellen ist also:
Jugend ist vielfältig und – allem voran – in einem erstaunlich raschen Wandel begriffen. An die Stelle von beobachtbaren längeren Sequenzen der Herausbildung von Moden und Trends treten Vielfalt, Gleichzeitigkeit und rascher Wandel.
Ein zentrales Kennzeichen der modernen Gesellschaft, die Lösung des bürgerlichen Individuums aus Traditionen und Langzeitbindungen zugunsten fortschreitender Individualisierung ist offensichtlich bei den Jugendlichen inzwischen zur nahezu durchgängigen Lebensrealität geworden.
Jugend lässt sich aktuell als Spiel der „Selbst“–Inszenierung beschreiben, in einem ständigen Wechsel und einem nahezu paradoxen Ineinander von Uniformität (alles sieht irgendwie gleich aus!) und Individualität (aber alle sind sie immer mal wieder anders und – nach Möglichkeit – einzigartig).
JUGENDSZENEN – DIE MEHR / MINDER HEIMLICHE GEGENWELT
Auch dieser Begriff ist sehr weit gefasst, wesentlich erscheint dabei das Moment der Globalisierung von Jugendszenen, d.h. sie verlieren die Angebundenheit an einen bestimmten Ort.
In den Arbeiten der Szeneforschung (vgl. Heinzelmeier) wird unterschieden zwischen einem engen Szenekern (hard core insider), einem näheren Umfeld (mit sogenannten Hobby-Mitgliedern, die zwar weitgehend informiert und auch oft einmal dabei sind, aber eben nicht so fanatisch) und einem weiten Umfeld (mit Affinität zu zentralen Attributen der Szene – Musik, Sport etc. aber eben einer eher losen Verbundenheit – diese sind auch nicht so über die Szenecodes informiert). Die eher randständigen Mitglieder außerhalb des innersten Hard core Bereiches sind eher virtuell mit der Szene verbunden, vor allem über den multimedialen Sektor.
Szenen sind verschiedene Lebensstile, die nebeneinander existieren können. Ihre Konstitution erfolgt v.a. über Konsumobjekte und Äußerlichkeiten. Szenebindung ist für das zweite Lebensjahrzehnt bedeutsam, nimmt ab ca. 18 Jahren rasch ab. Sie definieren sich über Sprache, Musik, Kleidung, Konsum, politische und soziale Einstellungen. Jede Szene für sich hat eine eigenständige Zielgruppe mit eigener Identität.
Ein Versuch, den Begriff Szene zu definieren:
Szenen sind soziale Netzwerke, sie entstehen dort, wo Menschen freiwillig gemeinsame Interessen, Wertvorstellungen, Freizeitaktivitäten entwickeln oder gleiches Konsumverhalten zeigen. Sie werden als die Gesellschaftsordnung der 90er Jahre bezeichnet. Szenen sind expressive, medienöffentliche Gruppenstile. Szenezugehörigkeit zeigt keine räumlichen Unterschiede (Stadt – Land).
Am Beispiel der Szene der Gruftis lässt sich beobachten, dass diese – obwohl es sich um eine sehr ausdrucksstarke und eindrückliche Jugendszene handelt – weitgehend unsichtbar bleibt. Die Gegenwelt der Szenen beschränkt sich nahezu ausschließlich auf die Ingroup und hier wieder vor allem auf den harten Kern.
Die Zugehörigkeit zu Szenen wie beispielsweise den Gruftis erfordert Mobilität, die geselligen Kontakte beschränken sich eher auf die Wochenenden, wenn es eben Konzerte oder Partys gibt. Da versammeln sich dann bis zu 2000 Leute, aber die persönlichen Begegnungen beschränken sich dabei jeweils auf die kleinere Gruppe des persönlichen Umfeldes. Gewissermaßen handelt es sich dabei um die weiträumige Vernetzung vieler kleiner Inseln, während gleichzeitig die Integration in den sozialen Alltag vor Ort deutlich an Bedeutung verliert.
In der Selbstdarstellung einzelner Szenen werden einerseits deutliche und markante Zuschreibungen vorgenommen und zu einem guten Teil in der eigenen Selbstinszenierung vorweggenommen. Die Zugehörigkeit zu den Gruftis etwa wird regelrecht inszeniert, dazu dient das spezielle Outfit, das sorgfältige Schminken – die Jugendmode ist zentraler Teil der Spielregel – Eindrucksregie mehr / minder die Norm.
Zugleich ist aber vermehrt ein Ende der Zuschreibungen insofern zu beobachten, als die Jugendlichen selbst mit den Accessoires der Jugendmoden und –szenen spielen; klar sind die Zielnormen für die Mitglieder verbindlich – die gilt es ganz zu erfüllen und nicht nur so als ob. Andererseits gibt es in diesem Rahmen gleichzeitig mehr oder weniger die Freiheit, zu tun oder zu lassen, wie man / frau gerade möchte – sofern es zum weiteren Rahmen der Szenecodes passt.
Das bestätigt letztlich auch jene Mitteilung der Jugend- und Szeneforschung, wonach viele Jugendliche nicht nur zu einer Szene gehören, sondern sich eher in den Randbereichen von mehreren Szenen aufhalten und quasi zwischen verschiedenen Szenen surfen. Aus dem Repertoire mehrerer Szenen werden dann die einzelnen Signets entnommen und in einen mehr / oder weniger lockeren Mix gebracht. Für einen großen Teil der Jugendlichen gilt mithin nicht ein Totalitäts- oder ‚Reinheitsgebot’ sondern die Freiheit, mit den einzelnen Aspekten der Selbstdarstellung zu spielen.
• „Die Szene ist tolerant, alles ist drin, Hauptsache, es ist echt.“
Andrea, zugehörig zur Szene der Gruftis
SOZIALRÄUMLICHE ASPEKTE VON JUGEND
Von zentraler Bedeutung erscheint, dass diese Inszenierungen von Jugendlichkeit sich überwiegend spezielle Plätze und Räume schaffen und gestalten. Nicht immer handelt es sich dabei um die klassischen Begegnungsstätten wie Jugendzentren. Diese spezifische (Szene)Jugendlichkeit wird überwiegend an Orten und in Räumen inszeniert, die eben keine Vorstrukturierungen aufweisen. Die realen Orte jugendlicher Inszenierung reichen vom Friedhof über Party-Lokalitäten, Jugendzentren oder Diskos bis hin zum Einkaufszentrum, den Cine-Centers und McDonalds, bis hin zum ‚Balkan’, das meint die vom Ambiente eher südlich / anatolische Atmosphäre von öffentlichen Plätzen mit höherer Beteiligung von MigrantInnen der zweiten Generation (der Orient im Beserlpark).
Mit ähnlicher Motivation leben andere Jugendliche ihre Vorlieben in virtuellen Umgebungen aus, unabhängig davon, ob sie sich dort mit anderen Menschen austauschen, ob sie sich unterschiedliche Websites herunterladen, sich also in der weiten und unbegrenzten Welt des virtuellen Raums kundig machen, oder auch die letzten Spielinnovationen begutachten. Vielfach aber nimmt dieser öffentliche und nicht vorstrukturierte Raum in der Hand der jugendlichen NutzerInnengruppe sehr persönliche Züge an, Öffentlichkeit wird zum Spielfeld, wo im Rahmen der jeweiligen Vorlieben die persönliche Inszenierung Platz findet.
DIE SOZIALE ZEIT VON JUGEND
Ähnlich bestimmend sind dann auch die zeitlichen Konnotationen. Zu einem guten Teil sind die großen Inszenierungen der Freizeit, dem Weekend oder der Nacht vorbehalten. Als Trend und Tendenz erscheint hier aber bemerkenswert, dass nicht alle Szenen so abgeschieden und unscheinbar agieren wie die Gruftis. Das Gegenteil dürfte hier bei vielen anderen Szenen der Fall sein, wobei mehr und mehr keine zusätzlichen und abgetrennten Zeiträume für das Spiel mit der eigenen Jugend herhalten, sondern die zentralen Aktivitäten mehr und mehr in die Alltagszeit eindringen. So macht es für viele Mitglieder von Jugendszenen eben keinen Unterschied, ob sie als solche erkannt werden. Sie ziehen „sowieso immer an, was Spaß macht.“ Der Unterschied zum Alltag liegt dann eher darin, dass es für gemeinsame Events auch die erforderliche Zeit für den entsprechenden Vorbereitungsaufwand braucht. Das große und intensive Schminken und Herrichten etwa bei den Gruftis bleibt dem Sonderfall vorbehalten, die Grundstimmung der besonderen Jugendlichkeit zieht sich aber quer durch den Alltag.
DIE SOZIALE REALITÄT VON JUGEND
Befragt nach ihren Perspektiven und Wünschen zeigen die Jugendlichen Zeichen eines sehr pragmatisch ausgerichteten Realitätssinnes – strikter Rationalität und durchaus seriösen Berufsperspektiven, auch wenn sich die Beschreibung des künftigen Berufslebens gelegentlich so anhört, wie sie ihre sportlichen Spitzenleistungen beschreiben. Es darf ruhig anstrengend und riskant sein, nur anmerken soll man / frau es ihnen nicht.
Das Leben in der Szene der Gruftis – um hier bei diesem Beispiel zu bleiben – ist wesentlich bestimmt vom starken Auftritt und der kleinen Anmache zwischendurch. Diese Szene ist ausgesprochen körperbetont, wobei das Spielen mit Erotik weitestgehend in den Vordergrund tritt. Während sich etwa die Frauen mit ausgeprägten und körperbetonenden Utensilien wie Korsett, hohen Absätzen etc. aufreizend geben und z.B. ‚oben ohne‘ auftreten, wird bei den Männern das Outfit durch eine starke Geschlechtsbetonung geprägt – der „Kampfanzug“, rüstungsähnlich und mit den entsprechenden Accessoires versehen.
Im Alltag dagegen dominieren nichtsdestotrotz die traditionellen Geschlechtsrollen. Es ist ganz selbstverständlich, dass der männliche Partner bei haushaltstechnischen Sachen zur Hand geht (z.B. Elektrik), während der Abwasch und das Putzen ganz klar die Aufgabe der Frauen ist.
JUGEND UND WERTE
Prägend ist ein Wertewandel, in dem materielle Werte (Wohlstand, Wachstum, Stabilität, Ordnung, Tradition) sich neben postmateriellen (Friede, Freundschaft, Freiheit, Partizipation, familiäre Sicherheit tendenziell in den Vordergrund schieben. Jugendliche haben neben Angst vor Krieg oder Krankheit vermehrt auch Angst vor Arbeitslosigkeit oder davor, keine Lehrstelle zu finden.
Optimismus bzgl. der persönlichen Zukunft nimmt ebenso ab, wie auch die optimistische Einschätzung über die gesellschaftliche Zukunft als schwindend einzuschätzen ist.
Die Ablehnung von Politik bezieht sich v.a. auf die institutionelle Politik (Parteien, Verhandlungen, Regierung, Parlament). Das politische Wissen wiederum ist größer als früher, vor allem das Interesse an politischen Entscheidungen, welche das Umfeld von Jugendlichen betreffen. Das Interesse ist allerdings nicht gleichbedeutend mit Engagement und Partizipation, welche als eher gering eingestuft werden muss.
Die Familie ist weiterhin eine wichtige Sozialisationsinstanz, nicht allein, aber neben Freunden, Schule, Betreuungs- und Freizeiteinrichtungen. Familie, Partnerschaft, Sexualität werden zunehmend als privater Bereich und Rückzugsraum angesehen. Religion wird, ähnlich wie die Politik, in institutionalisierter Form abgelehnt, als Lebens- und Orientierungshilfe sowie zur Unterstützung des subjektiven Wohlbefindens wird Religion bzw. Spiritualität als wichtig angesehen.
Auch Drogen spielen in diesem Bereich eine wichtige Rolle, wobei eine Entwicklung hin zu weniger riskantem Konsum (d.h. weniger Opiate, stattdessen mehr Ecstasy und Cannabis) zu beobachten ist. Häufig findet sich eine enge Verbindung von bestimmten Drogen mit bestimmten Jugendszenen, so etwa die Verbindung von Ecstasy und Techno. Dabei ist eine gegenseitige Verstärkung zu beobachten, Bedürfnis nach Nähe, Liebe sowie der Zugehörigkeit zur Szene wächst („love, peace and unity“) und wird über die Wirkung der Droge ‚euphorisiert’.