Anmerkungen zur Geschichte der Jugendarbeit

ERSTE ETAPPE DER JUGENDARBEIT (ANFANG DES 20. JAHRHUNDERTS)

ad Familie: trotz Ausbreitung der Einflüsse des Kapitalismus auf die Privatsphäre gilt die (bürgerliche) Familie unbestritten als zentrale Grundlage der Gesellschaft; durch durchgängige Erwerbstätigkeit von Männern und in ersten Anfängen auch von Frauen erweisen sich aber insbesondere die proletarischen Familie (in den Armenghettos der industrialisierten Ballungsräume) als Ort der Erziehung der Kinder als ungeeignet; eine wachsende Anzahl von Jugendlichen ist mit Verwahrlosung und Verelendung konfrontiert. In der Presse sowie der öffentlichen Meinung wird der Ruf nach ‚Rettung’ der gefährdeten Jugendlichen laut.
ad Schule: Die allgemeine Schulpflicht ist eingeführt. Mehr und mehr setzt sich in dieser Zeit eine weitgehende Verlängerung der Pflichtschulzeit, eine Institutionalisierung der Schulen und eine weitgehende Verregelung des Faktums Schulbesuch durch. Wissensvermittlung rückt dabei immer stärker in den Mittelpunkt der schulischen Angebote, die sich wesentlich um Allgemeinbildung sowie Ausbildung in spezifischen berufsvorbereitenden Fächern drehen. Wesentlich erscheint dabei die zunehmende Monofunktionalisierung und die verstärkte Ausrichtung auf eine Wissensvermittlung im Dienst der Wirtschaft (spätere Anwendung im Berufsleben), während allgemeinere Fragen der Persönlichkeitsbildung und der Förderung von sozialer Kompetenz mehr und mehr in den Hintergrund geraten.
ad außerschulische Jugendarbeit: Mit Beginn des 20. Jahrhunderts starten die ersten Ansätze für eine verbandliche Jugendarbeit, die sich wesentlich als familienergänzend versteht und sich zur Aufgabe macht, Kindern und Jugendlichen gedeihliche Rahmenbedingungen für ein Aufwachsen mit den großen Werten (religiös, Umwelt, parteipolitisch etc.) zu garantieren. Verbände – wie etwa die katholische Jugend oder auch die Pfadfinder argumentieren dabei wesentlich mit den ungünstigen Lebensbedingungen der städtischen / proletarischen Jugend, in denen sie eine Bedrohung der traditionellen Werte sehen. Diese Ansätze der außerschulischen Jugendarbeit sind verbandlich organisiert und beruhen wesentlich auf dem unentgeltlichen Engagement von Erwachsenen (bürgerlicher Schichten). Kennzeichnend ist weiters, dass diese Jugendorganisationen sehr verregelt sind und bereits seit den frühen Phasen ihrer Gründungszeit international in z.T. weltweiten Trägerorganisationen zusammenarbeiten.
Die pädagogischen Leitthemen ranken sich um Persönlichkeitsentwicklung, Religion, Umwelt und Natur, (Partei)Politik; die Angebote der Verbandlichen umfassen Sport und Bewegung, Reisen und internationalen Austausch. Wichtige Antriebsfeder dabei ist eine starke Orientierung am (unentgeltlichen) Gemeinwohl (die sprichwörtliche tägliche gute Tat z.B.).

ZWEITE ETAPPE DER JUGENDARBEIT (ETWA 2. HÄLFTE DES 20. JHDT.)

ad Familie: Die Bedeutung der Familie nimmt real ab, auch wenn diese als oberste Werthaltung immer noch von den großen Institutionen wie Kirchen und Parteien hochgehalten und gepriesen wird.
ad Schule: nimmt weiter an Bedeutung zu; die durchschnittliche Dauer der Schullaufbahnen der Jugendlichen wird länger; immer mehr Jugendliche und vor allem auch Mädchen kommen in den Genuss höherer Schulbildung (aktuell haben Mädchen die Burschen in ihrem schulischen Engagement bereits deutlich überholt – mit Ausnahme der eher technischen BHS-Zweige, in denen nach wie vor Burschen dominieren). Trotz vielfältiger Ansätze zur Reform der schulischen Ausbildungsschwerpunkte und –methoden haben es eher ganzheitlich ausgerichtete Alternativschulen in Österreich nach wie vor schwer. Ihre Arbeitsansätze werden nur zögerlich in das Regelschulwesen übernommen. Am Grundtenor der Wissensvermittlung und dem weitgehenden Verzicht auf schulische Beiträge zur Persönlichkeitsentwicklung und –bildung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nur wenig geändert.
ad verbandliche Jugendarbeit: Grundausrichtung und pädagogische Schwerpunkte der Verbandlichen bleiben trotz veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen weitgehend gleich. Ganz offensichtlich kommt die verbandliche Jugendarbeit mit diesen geänderten Anforderungen nicht gut zurecht. Ihre Angebote werden von den Jugendlichen ab dem Alter von etwa 14 Jahren immer weniger in Anspruch genommen, die Mitgliederzahlen schrumpfen; die älteren Jugendlichen wandern mehr und mehr ab.
ad offene Jugendarbeit: Stattdessen werden Jugendliche selbst aktiv und initiieren alternative Treffpunkte. In die Zeit der 60er Jahre fällt die Gründung der ersten offenen Jugendinitiativen und Jugendhäuser; Kernthema dafür ist Selbstorganisation und Abkehr von der verregelten, verschulten und überwiegend pädagogisch orientierten institutionellen Jugendarbeit in Schulen und Verbänden. Autonomie wird großgeschrieben und ist die wesentliche Triebfeder für das Entstehen von Einrichtungen der offenen Jugendarbeit. Ihrem Selbstverständnis nach konstituiert sich offene Jugendarbeit als nicht-pädagogisierter Raum. Als weitere Kennzeichen ist festzuhalten, dass es in den Anfängen der Offenen Jugendarbeit weder professionelle Standards noch hauptamtliche MitarbeiterInnen in nennenswerter Anzahl gab. Die meisten Einrichtungen gründeten wesentlich auf dem ehrenamtlichen Engagement von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich in ihren Rollen und Funktionen aber häufig abwechseln; hohe Fluktuation von Funktionsträgern. Viele Jugendinitiativen, selbstorganisierte Clubs, Treffs und Zentren verstehen sich als Alternative zu gesellschaftlichen Strömungen und zeichnen sich durch eine weitgehende Absage ans Establishment und die bürgerlichen Normen aus.

DRITTE ETAPPE DER JUGENDARBEIT (ETWA AB 1970)

ad offene Jugendarbeit / Freizeitarbeit und –markt: Der Angebotsbereich der Jugendfreizeitarbeit in offenen Handlungsfeldern / in Clubs, Treffs und Jugendzentren wird in den 70er Jahren verstärkt auch von der Sozialarbeit und der Sozialpädagogik entdeckt und als ihr ureigenes Arbeitsfeld definiert. Verstärkt kommt es nun dazu, dass sich als Alternative zu autonomen Jugendhäusern nun pädagogisch ausgerichtete Einrichtungen etablieren. Damit kommt es zu einer häufig beklagten Entpolitisierung, zu einer verstärkten Pädagogisierung und einem weitgehenden Abbau von Autonomie in der offenen Jugendarbeit – nur zu verständlich: sind doch den maßgeblichen GemeindepolitikerInnen pädagogisch ausgerichtete Jugendeinrichtungen allemal lieber als aufmüpfige, autonome „Anti-Establishment-Zentren“. An die Stelle von Selbstorganisation tritt pädagogisch angeleitete Partizipation. Soziokulturelle Animation und Erlebnispädagogik ziehen in die offene Jugendarbeit ein; gleichzeitig wird es für Jugendliche aus sozialen Randgruppen tendenziell schwieriger, in diesen Angeboten Platz zu finden. Augenscheinlich wird diese mehr / minder durchgängige Ab- und Ausgrenzung in der Strategie von Hausverboten (die ‚seltsamer’ Weise allem voran Jugendliche türkischer Herkunft treffen) bzw. anderen mehr / minder systematischen Versuchen, den (unerwünschten) Besuch zu reglementieren.

VIERTE ETAPPE DER JUGENDARBEIT (ETWA AB 1990)

ad Familiensysteme: die Erosion des traditionellen Familiensystems (Kernfamilie aus Mann & Frau & zwei Kindern) nimmt rapide zu. Kontinuierliche Familienstrukturen werden durch tend. weniger verbindliche Partnerschaften abgelöst, die Rede ist von Lebensabschnittspartnerschaften. Für Kinder und Jugendliche hat das unmittelbare Konsequenzen. Inzwischen liegt die Quote der Scheidungswaisen bei mehr als 50%, Patchworkfamilien,
AlleinerzieherInnenhaushalte respektive Wechsel von Familienmitgliedern werden mehr und mehr zur Norm.
ad verbandliche Jugendarbeit: stabil in der hohen Bedeutung für die Arbeit mit Kindern; ansatzweise werden zudem Methoden und Angebote der OJA und der Jugendkulturarbeit implementiert. Insbesondere im ländlichen Raum / in kleineren Gemeinden kann die verbandliche Jugendarbeit (z.B. Landjugend) eine wichtige Infrastruktur für Jugendliche und Jugendkulturinteressierte etablieren.
ad Jugendfreizeitmarkt: Mode, Sportartikel, Jugendmedien; Musikindustrie etc. differenzieren sich aus und werden zu einem Wirtschaftsfaktor, der weit über den engeren Bereich der Jugendfreizeit hinaus reicht  Culture-Industries!
ad Jugendkultur und Szenen: autonom, dynamisch / häufiger Wechsel, Anti-Establishment-Reflex in einzelnen Teilen; unabhängig davon übernimmt Jugendkultur eine prägende Rolle und Bedeutung für den gesamten Bereich der Populärkultur  Themenführerschaft!
ad soziokulturelle Animation: (eher enthaltsam in Bezug auf Jugendkulturen); im Vordergrund steht hier der Versuch einer pädagogischen Vereinnahmung. Verstärkt kann beobachtet werden, dass die Einrichtungen der Sozial- und Freizeitpädagogik versuchen, Einfluss auf die Einrichtungen und Angebote der Jugendarbeit zu nehmen und diese z.B. für Anliegen der Sozialmedizin, der Sucht- und Kriminalprävention etc. in Funktion zu nehmen.
ad Partizipation: vermehrt werden in den Städten Beteiligungsangebote entwickelt und mehr/minder institutionalisiert, Kinder und Jugendliche erhalten so die Möglichkeit, sich systematisch an Agenden der Gemeindeentwicklung zu beteiligen  sofern diese Angebote der Gemeinden wirklich bei den Kindern und Jugendlichen ankommen.

FÜNFTE ETAPPE DER JUGENDARBEIT (ETWA AB 2005)
Die Dynamik im Feld der Offenen Jugendarbeit ist weiterhin exzessiv und hat mit dem Ende der 90er Jahre nicht aufgehört – im Gegenteil: Wir stehen heute mittendrin in einer fortschreitenden und rasanten Entwicklung der gesamten Gesellschaft  und zwar gleichermaßen unter dem Gesichtspunkt, dass Kindheit und Jugend sich im Kontext der Modernisierung zunehmend diversifizieren, als auch in Hinblick darauf, dass Jugendliche und ihre Kulturen sich als wesentlicher Motor für Modernisierung und Beschleunigung der gesellschaftlichen Entwicklung erweisen.
Die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen sind einem raschen und tiefgreifenden Wandel ausgesetzt, der unter vielerlei Gesichtspunkten zum Ausdruck kommt. Wesentliche Aspekte davon betreffen die Geschlechtsrollenentwicklung sowie die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung. Dementsprechend machen neue Herausforderungen auch vor der außerschulischen Jugendarbeit, ib. der OJA, nicht Halt, im Gegenteil.
Die außerschulische Jugendarbeit der jüngeren Vergangenheit ist geprägt durch Professionalisierung und Diversifizierung. Je nach örtlichen Rahmenbedingungen, nach Trägertraditionen und Gewohnheiten, nach politischen Präferenzen vor Ort / in der Region unterscheidet sich OJA in Hinblick auf viele Aspekte. Wichtige in Stichworte für die aktuelle Entwicklung:
• gendersensible Jugendarbeit
• sozialräumliche Jugendarbeit
• zielgruppenspezifische Aspekte (SchülerInnen, Lehrlinge, Fankulturen, gewaltbereite Jugendliche, Deradikalisierung etc.)
• Peer Education, Ermächtigung, Selbstorganisation
• interkulturelle Jugendarbeit
• Beteiligung, politische Bildung
• Jugenddiskurs, kommunale und regionale Jugendarbeit
• offensive und innovative Jugendarbeit
• digitale Jugendarbeit